Revista europea de historia de las ideas políticas y de las instituciones públicas
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DER EUROPAGEDANKE UND OSZKÁR JÁSZI (1875-1957)
Gábor HAMZA*
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Gábor Hamza (2012): "Der Europagedanke und Oszkár Jászi (1875-1957)", en Revista europea de historia de las ideas políticas y de las instituciones públicas, n.o 2 (febrero 2012), pp. 1-9.
ABSTRACT: Das reiche und vielf�ltige wissenschaftliche Oeuvre von Oszk�r J�szi kann im europ�ischen Zusammenhang nicht von der internationalen Fachliteratur �ber das Habsburgerreich getrennt werden. Sein bedeutendstes Werk ist das im Jahre 1929 in Chicago ver�ffentlichte The Dissolution of the Habsburg Monarchy. J�szi unterzieht in seinem im Jahre 1912 in Budapest in ungarischer Sprache publizierten Werk mit dem Titel Die Entstehung der nationalen Staaten und die nationale Frage (auf Deutsch) die Problematik der nationalen Entwicklung in historischem und in wirtschaftlichem Zusammenhang einer sehr gr�ndlichen Untersuchung. In dieser Abhandlung verweist der Autor auf die aktuelle Bedeutung des auf den F�deralismus bezogenen Europagedanken des namhaften ungarischen Soziologen, Historikers, Politikers und Staatsmannes Oszk�r J�szi.
KEY WORDS: Europagedanke, F�deralismus, Habsburgerreich, Mitteleuroa, Nationalit�t, Nationalit�tenproblem, �stereichisch-Ungarische Doppel-monarchie.
ABSTRACT: The rich and complex oeuvre of Oszk�r J�szi can not be separated from literature written on the Empire of the Habsburg dinasty. His most impartant work is with no doubt The Dissolution of the Habsburg Monarchy published in Chicago in 1929. Another work of considerable significance is J�szi's book titled Die Entstehung der nationalen Staaten und die nationale Frage (in German) published in Budapest in 1912 dealing with the question of development of nationalities in a historical and economic context. The author of this article points out the contemporary significance of the idea of Europe in relation to federalism of Oszk�r J�szi, the renowned Hungarian sociologist, historian, politician and stateman.
KEY WORDS: Austrian-Hungarian Dual Monarchy, Central Europe, Federalism, Idea of Europe, Habsburg-Empire, Nationalism, Problem of Nationalism.
Motto: « Il n’y a plus aujourd’hui de Français, d’Allemands, d’Espagnols, d’Anglais même, quoi qu’on en dise ; il n’y a que des Européens ». (Jean Jacques Rousseau, Considérations sur le Gouvernement de Pologne, et sur sa réformation projetée)
1. Bei der Analyse des Europagedankens – gleichgültig ob in einem politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Zusammenhang – stellt sich die Frage, was genau unter den Begriffen „Europa“, „Mitteleuropa“ („Zentraleuropa“) oder eben „Ostmitteleuropa“ zu verstehen ist.1 Die Beant-wortung dieser Frage hängt offensichtlich in hohem Maße davon ab, welche geschichtliche Epoche untersucht wird. Der Begriff eines geographisch strukturierten oder nicht strukturierten Europas wird vom Problemkreis der Supranationalität begleitet, die selbstverständlich eine historisch motivierte Kategorie darstellt. So wird die Frage nach der Supranationalität wie von selbst – auch ‒ im Zusammenhang mit dem antiken Imperium Romanum gestellt.
Das antike Römische Reich kann als „Eingewaltenreich“ bezeichnet werden; man beachte, daß auch die äußeren, d.h. jene Regelung, die die internationalen Beziehungen betraf, nur auf das innerstaatliche Recht, auf das innerstaatliche Normensystem aufgebaut war; man merkt nicht im Geringsten, daß das Rechtssystem („systema iuris“) bzw. die Rechtsordnung („ordo iuris“) der mit dem Imperium Romanum parallel existierenden Staaten oder Staatsgebilde („Mächte“) irgendeine Beachtung gefunden hätten.
Den supranationalen Merkmalen und Strukturen des Römischen Reiches kommt auch im 21. Jahrhundert eher eine paradigmatische Bedeutung zu, vor allem auch deshalb, da es auf dem europäischen Kontinent kein einziges Reich bzw. keinen einzigen Staat gibt, das, mit den Worten Marcus Tullius Ciceros, den orbis terrarum unter seiner Herrschaft halten könnte. Wir leben in einem solchen Zeitalter, in dem die zentrifugalen Kräfte eine größere Rolle in der politischen Sphäre d.h. im politischen Bereich spielen.
Die Ursachen sind hierfür vor allem in den Ereignissen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zu suchen. Auch ohne besondere Erklärung ist es für uns klar, welche Motive in der Zeit zwischen 1989 und 1991 dazu geführt haben, daß in jenem Europa, das auf dem Schauspielplatz der internationalen Politik stets eine solch hervorragende Rolle eingenommen hat, den zentrifugalen Kräften eine in seiner Geschichte beispiellose Bedeutung zugekommen ist. Bei der Analyse des Europäertums in der Gedankenwelt bzw. Ideenwelt von Oszkár Jászi (1875-1957) müssen jedenfalls jene politischen Kräfteverhältnisse beachtet werden, die die betreffende Epoche in jeweils verschieden starkem Ausmaß prägen. 2. Im Zusammenhang mit der Analyse des Europäertums steht zunächst vor allem der auf eine Jahrtausend alte Vergangenheit zurückblickende Begriff bzw. Terminus technicus „Mitteleuropa“ bzw. „Zentraleuropa“ (auf Englisch: Central Europe, auf Französisch: Europe centrale oder Europe médiane) zur Untersuchung. Im Kontext mit der Geschichte des Begriffes „Zentraleuropa“ bzw. „Mitteleuropa“ wollen wir diesmal nur darauf hinweisen, daß ihm schon die bekannten Schriften De Administrando Imperio und De caerimoniis aulae Byzantinae des byzantinischen („oströmischen“) Kaisers Konstantin VII., genannt Konstantin Porphyrogennetos oder Porphyrogenitus (913-959), eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beigemessen haben.
Mit ihnen müssen wir den Begriff von dem „Mitteleuropa“ Friedrich Naumanns (1860-1919) abgrenzen, der – worauf z.B. der bekannte italienische Soziologe Raimondo Strassoldo unserer Ansicht nach etwas übertrieben und polarisiert hinweist – gleichermaßen eine „Hypothek des potentiellen Pangermanentums“ ist. Richtiger ist, will man eine negative Konnotation vermeiden, die Verwendung des deutschen Begriffes „Zentraleuropa“, in dem – wieder berufen wir uns auf Strassoldo – der multinationale Charakter (auf Italienisch: „carattere plurinazionale“) dominiert und so Macht- und Herrschafts-aspirationen gänzlich zunichte gemacht werden.
3. Zu Recht kann man freilich die Frage aufwerfen, ob die Verwendung des Ausdrucks „Mitteleuropa“ heute noch berechtigt ist. Gut bekannt ist die Geschichte, an die Milan Kundera erinnert, daß im Zuge der ungarischen Revolution bzw. des Aufstandes bzw. Freiheitskampfes im Jahre 1956 der Radiosprecher sich darauf berufen hatte, für Europa und nicht für Mitteleuropa (sic! – G. H.) zu sterben.
Im Zusammenhang mit der Europa- bzw. Zentraleuropa-Frage ist es ferner lehr- und aufschlußreich, den Gedanken von Niklas Luhmann (1927-1998) aufzugreifen, der die Ansicht vertrat, daß die Gesellschaft im Wesentlichen auf kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen aufbaut, und daß so gesehen auf der Erde nur das Genus Societas, die „Weltgesellschaft“ existiert. Der namhafte deutsche Soziologe betrachtet die sog. nationalen Gesellschaften als bloße Subsysteme. Luhmann mußte jedoch selbst anerkennen bzw. davon ausgehen, daß neben dem sog. Genus Societas in einer gesellschaftlichen Ordnung noch andere Organisationen auftreten, deren entscheidende Eigenschaft die zentrale Überwachung und die Verteidigung der Grenzen ist. Diese Organisationen können unzählig viele konkrete Formen annehmen.
Es steht jedoch außer Frage, daß innerhalb dieser Organisationen jenen, die auf einer politisch-territorialen Grundlage beruhen, die größte Bedeutung zukommt. Die globale Anschauungsart Niklas Luhmanns bürgt auf anschaulichste Weise für seine Konzeption.
Dieser Ansicht kommt im Zusammenhang mit „Zentraleuropa“ insofern Bedeutung zu, als daß in einer Gesellschaft, die auf kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen beruht, die Quantität und die Qualität dieser Verbindungen dazu fähig ist, eine globale Organisation, ein Genus Societas, also eine politisch-territoriale organisatorische Einheit zu schaffen. Demnach ist in diese der Staat dann als Subsystem eingeordnet. Dieses Genus Societas kann nun Europa oder & eben im vorliegenden Zusammenhang Zentraleuropa sein. In der Gedankenwelt von Oszkár Jászi nimmt diese überaus bedeutende, weit in die Vergangenheit zurückgehende Frage durch ihre immens hohe theoretische Bedeutung einen großen Stellenwert ein.
4. Das reiche und vielfältige wissenschaftliche Oeuvre von Oszkár Jászi kann im europäischen Zusammenhang nicht von der internationalen Fachliteratur über das Habsburgerreich getrennt werden. Das zweibändige Werk The Multinational Empire, Nationalism and National Reform in the Habsburg Monarchy. 1848-1918 (New York) von Robert A. Kann, das im Jahre 1950 in erster Auflage erschienen ist, stellt auch heute noch eine grundlegende Quelle für Forschungen im Zusammenhang mit der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie (auf Englisch: Austrian-Hungarian Dual Monarchy), genauer gesagt mit dem Ausgleich (auf Englisch: Compromise, auf Ungarisch: Kiegyezés), dar. 2 Die zweite Auflage des Werkes ist in deutscher Sprache unter folgendem Titel erschienen: Das Nationalitätenproblem der Habsburger-monarchie. Geschichte und Ideenwelt der antinationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. I-II. (2. Auflage, Graz ‒ Köln, 1964).
Die grundlegende, auch heute noch bedeutsame Aussage des Werkes liegt darin, daß die sich auf dem Gebiet des Habsburgerreiches bzw. der Doppelmonarchie befindlichen Staaten in eine Art Föderation zusammen-geschlossen werden könnten. Ihr Zusammenhalt wurde durch die zentripetalen Kräfte in diesem Zeitraum ermöglicht. Zu den Kräften, die die Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie (das frühere Habsburgerreich) zusammenhielten, gehörten josephinisches Gedankengut genauso wie konservative Vorstellungen. Sogar sozialistische bzw. sozialdemokratische Vorstellungen zählten in dieser Zeit zu den zentripetalen Kräften.
5. In einem, im Jahre 1957, also nur einige Jahre später publizierten Werk mit dem Titel The Habsburg Empire. A Study in Integration and Disintegration baut der aus Österreich d.h. aus der cisleithanischen Hälfte der Doppelmonarchie stammende Historiker Robert Kann seine aktuellen politischen Vorstellungen in bezug auf eine zentraleuropäische Föderation auf die Erfahrungen der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie auf. Seiner Ansicht nach bestehen jene starken zentripetalen Kräfte, die die Doppelmonarchie – in erster Linie die cisleithanische und die transleithanische Reichshälfte (d.h. das Königreich Ungarn bzw. die Länder der Stephanskrone) ‒ zusammenhielten und die ein wesentliches Element für die Herstellung des europäischen Gleichgewichts sind (ohne daß man dabei von einem gewaltsamen Festhalten an ihnen sprechen könnte), auch heute, d. h. im Jahre 1957, noch fort. Robert Kann zieht aus diesen Prämissen den direkten Schluß, daß der Gedanke an eine „Zentraleuropäische Union“ keine Illusion ist.
6. In krassem, sogar diametralem Gegensatz zu dieser Vorstellung steht das im Jahre 1929 in Chicago veröffentlichte Werk von Oszkár Jászi mit dem Titel The Dissolution of the Habsburg Monarchy. In ungarischer Sprache erschien es erstmals Jahrzehnte später, im Jahre 1983 – ebenfalls in Chicago – als Paperbackausgabe unter dem Titel A Habsburg-monarchia felbomlása (auf Deutsch: Zerfall der Habsburgermonarchie). Unter einem diametralen Widerspruch verstehen wir, daß Oszkár Jászi im Gegensatz zu Robert A. Kann kein auf dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie aufbauendes Programm für seine Epoche gibt.
7. Das Werk des englischen Historikers A. J. Taylor The Habsburg Monarchy 1809-1918. A History of the Austrian Empire and Austria-Hungary, erstmals im Jahre 1948 in London erschienen (die dritte Auflage erschien im Jahre 1960 ebenfalls in London), betont die zentrifugalen Kräfte der untergegangenen Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie in übertrieben starker Weise. Das Werk, welches unter den Historikern einen beachtlichen Widerhall fand, beschäftigt sich im Gegensatz zu Robert A. Kann bzw. in Einklang mit Oszkár Jászi geradezu ausschließlich mit jenen „negativen“ Kräften, die schließlich zum Untergang des sehr komplexen staatsrechtlichen Gefüges der Habsburger-monarchie geführt haben. Der englische Historiker unterschätzt stark die wirtschaftlichen Kräfte, die die Monarchie zusammengehalten haben, ganz zu schweigen von der mit Vorurteilen behafteten Beurteilung der politischen Struktur. Hierbei schließt A. J. Taylor die Möglichkeit einer Föderation der Länder auf dem Gebiet der ehemaligen Donaumonarchie aus. Diese Ansicht impliziert gleichzeitig, daß diese Staaten auch nur schwerlich an einer europäischen Föderation teilnehmen können, da sie die zentripetalen wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte in ihrer eigenen Region, auf ihrem eigenen Gebiet nicht zu ordnen vermögen.
8. Arthur J. May kommt in seinem Buch The Habsburg Monarchy 1867-1914 (Cambridge, Massachusets, 1960) zu beachtlichen Ergebnissen, indem er in Gegensatz zu Taylor die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen in Betracht zieht. Der US-amerikanische Historiker führt das Scheitern der Österreichisch-Ungarischen Monarchie auf politische, besser gesagt auf innenpolitische Gründe zurück. Das supranationale Gefüge der Doppelmonarchie ist seiner Ansicht nach einfach unzeitgemäß geworden und mußte daher dem Herausbilden von nationalen Staaten (auf Englisch: national states) weichen.
Aus der oben dargelegten Ansicht, die vor allem die Bedeutung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen hervorhebt, folgt, daß die Perspektive einer Zusammenarbeit, eventuell in Form einer Föderation zwischen den neu entstandenen Staaten nicht ausgeschlossen ist.
9. In den Werken von Taylor und May finden sich in vielerlei Hinsicht widersprüchliche Auffassungen über die Gründe, die zum Zusammenbruch der Doppelmonarchie geführt haben und, was im vorliegenden Fall vielleicht am wichtigsten ist, über die durch die kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen motivierte engere Zusammenarbeit zwischen den auf diesen Gebieten entstandenen Teile des „New Europe” und über die Möglichkeit diese Kooperation auf eine politische Ebene zu erheben.
In die gleiche Richtung weist auch das im Jahre 1981 von den Söhnen des britischen Historikers R.W. Seton-Watson, Hugh Seton-Watson und Christopher Seton-Watson publizierte Werk The Making of a New Europe. R.W. Seton-Watson and the Last Years of Austro-Hungary (London, 1981), das sich mit dem Entstehen des „New Europe” nach dem Zusammenbruch der Doppel-monarchie beschäftigt.
10. Zusammenfassend kann auf Grund dieses skizzenhaften Überblicks über das Schrifttum gesagt werden, daß in der internationalen Literatur auch viele Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (auf Ungarisch: Osztrák-Magyar Monarchia) keine communis opinio über die Gründe, die zu diesem Zusammenbruch geführt haben und darüber, wie eine Zusammenarbeit der auf diesem Gebiet entstandenen Staaten und den übrigen europäischen Staaten aussehen könnte, vorliegt, und das obwohl die Möglichkeit einer objektiven Betrachtungsweise schon aufgrund der zeitlichen Entfernung gegeben wäre.
11. Oszkár Jászi unterzieht in seinem im Jahre 1912 in Budapest in ungarischer Sprache publizierten Werk mit dem Titel A nemzetállamok keletkezése és a nemzeti kérdés (auf Deutsch: Die Entstehung der nationalen Staaten und die nationale Frage) die Problematik der nationalen Entwicklung in historischem und - fügen wir gleich noch hinzu - auch in wirtschaftlichem Zusammenhang einer sehr gründlichen Untersuchung. Im Zuge dieser Arbeit spielt auch die Analyse der griechisch-römischen d.h. klassischen Antike eine beachtliche, nicht zu unterschätzende Rolle. Er verbindet die nationale Frage mit der Demokratie, wodurch seinem Buch eine besondere Aktualität zukommt. Er stellt fest, daß die „Menschheit so geschaffen wurde, daß der Weg zur Internationalität über die Nationalität und zur Nationalität wiederum der der Volksmassen und ihrer Muttersprache führt“. Die Assimilation ist für ihn im Wesentlichen eine wirtschaftliche und kulturelle Frage. In seiner Arbeit spielt der europäische Gedanke eine wichtige Rolle, wobei er die Zukunft, gerade vom Beispiel der Doppelmonarchie ausgehend, eindeutig in einer Föderation, nämlich in den Vereinigten Staaten von Europa (auf Ungarisch: Európai Egyesült Államok) sieht.
12. Bei der Definition dieser Vorstellungen baut er klar ersichtlich auf den Lajos Kossuth (1802-1894) zugeschriebenen Plänen einer Donaukonföderation (1862) auf.
Unserer Meinung nach ist die Ansicht, die Jászi in seinem Werk vertritt, in vielerlei Hinsicht mit jener verwandt, die der Historiker, Kulturphilosoph und Soziologe Hans Freyer (1887-1969) im Vorwort zu seinem zweibändigen Werk Weltgeschichte Europas (Wiesbaden, 1948) formuliert. Dieser Ansicht zufolge ist „Europa nicht von Natur, sondern durch Geschichte ein Kontinent, das heißt ein Zusammenhaltendes”. Das im Oktober des Jahres 1918 - ungefähr ein halbes Jahr nach der Konzeption bzw. Niederschrift der Arbeit - erschienene Werk Die Zukunft der Monarchie. Der Untergang des Dualismus und die Vereinigten Donaustaaten ist zu einem beachtlichen Teil von den Arbeiten der in Bern abgehalten Tartós Béke Liga (auf Deutsch: Liga für den andauernden Frieden), an deren Veranstaltungen er selbst aktiv teilgenommen hat, inspiriert.
Im Laufe der der Diplomatie der Entente folgenden Besprechungen kam man zu dem Schluß, daß der mit Friedrich Naumann in Verbindung gebrachte „Mitteleuropa-Plan“ auf jeden Fall aufgegeben werden müßte, genauso auch dessen von Hegemoniebestrebungen gereinigte Variante, und daß ferner konkrete, eine Föderation betreffende Vorstellungen ausgearbeitet werden müßten.
13. Der Kern dieser Konzeption war eine die Monarchie erhaltende bzw. sie noch ausweitende, fünf Staaten bzw. Staatsgebilde (Österreich, Ungarn, Böhmen (und Mähren), Polen und Illyrien) umfassende Einheit. Im Hinblick auf ihre Außenpolitik würden die Vereinigten Donaustaaten einen Bund mit den Ententemächten unterstützen, das gesamte die europäische Kultur umfassende Gebiet sollte in einem Gefüge zusammengefaßt werden. Allen im Jahre 1918 formulierten Föderationsplänen fehlte jedoch ein realistischer Hintergrund und so konnten sie, obwohl Mittel vorhanden gewesen wären, eine auf demokratischer Grundlage beruhende europäische Integration zu erreichen, nicht verwirklicht werden.
Diese Konzeption hat auch die innenpolitische Basis zunichte gemacht, da in den letzten Kriegsjahren die Mehrheit der ungarischen Nation für die Unabhängigkeit, d.h. für die Anerkennung Ungarns als politisch unabhängigen Staat war. Oszkár Jászi erkannte erst im Oktober 1918 in einem am 18. Oktober 1918 in der Zeitschrift Világ (auf Deutsch: Die Welt) publizierten Artikel den Gedanken einer Föderation innerhalb des ungarischen Staates d.h. Ungarns an. Die Gewährung einer territorialen Autonomie und ihre Sicherstellung für die einzelnen Nationalitäten (auf Ungarisch: nemzetiségek) oder Ethnien war zu diesem Zeitpunkt eine schon verspätete Geste.
14. Für die führenden Politiker der de facto zusammengebrochenen und auch de iure schon untergehenden Doppelmonarchie wurde die Notwendigkeit der Gründung einer Föderation selbstverständlich in sehr unterschiedlicher Ausgestaltung überraschend bald offensichtlich. Es ist zweckmässig in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß Gusztáv Gratz (1875-1946), der in den Jahren 1918-1919 einer der führenden Repräsentanten des Bécsi Ellenforradalmi Komité (auf Deutsch: Wiener Konterrevolutionäre Kommission) im Oktober 1919 – noch bevor er Gesandte Ungarns in der Republik Österreich (Deutsch-Österreich) wurde (seine Ernennung erfolgte erst am 12. November 1919) – in Wien Karl Renner (1870-1950) aufsuchte und ihm, im Einvernehmen mit der zwischen 7. August und 25. November 1919 amtierenden Regierung von István Friedrich (1883-1958) einen polnisch-ungarisch-österreichischen Block vorschlug.
15. Hier sei darauf verwiesen, daß Gusztáv Gratz früher der erste Herausgeber – ab dem Jahre 1899 – der Zeitschrift Huszadik Század (auf Deutsch: Zwanzigstes Jahrhundert) war und aktiv an der Gründung der Társadalomtudományi Társaság (auf Deutsch: Gesellschaftswissenschaftliche Gesellschaft) teilgenommen hatte.
Karl Renner, der schon früher eine auf wirtschaftlicher und ethnischer Grundlage beruhende dualistische Staatsstruktur ausgearbeitet hatte, in deren Folge das Territorium der Doppelmonarchie auf acht Gebiete (Territorien bzw. Regionen) aufgeteilt worden wäre, war mit diesen Vorstellungen jedoch nicht einverstanden. Auf der anderen Seite zog er den unmittelbar auf diesen Vorschlag folgenden Gedanken einer Donaukonföderation zwischen Österreich, der Tschechoslowakei und dem Königreich der Serben-Kroaten- und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien) ernsthaft in Betracht. Die tschechoslowakische Regierung wies diesen Plan jedoch kategorisch zurück, was unter anderem auch dadurch bewiesen wird, daß diese Möglichkeit im Laufe der Verhandlungen mit Karl Renner auf dessen Prager Reise im Jahre 1920 nicht einmal zur Sprache kamen. 16. Die Zurückweisung der Föderalismusvorstellungen Karl Renners hatten, auch das ist zu betonen, nicht so sehr prinzipielle, als vielmehr aktuelle politische Gründe: Eduard (Edvard) Beneš (1884-1948) selbst hatte im Laufe der vom 30. September bis zum 7. November dauernden Verhandlungen im Parlament von Prag über die Ratifizierung des Friedensvertrages bzw. Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye mit Österreich (Deutsch-Österreich) diese Ansicht unterstützt.
Es ist eine Besonderheit der Vorstellungen Karl Renners, daß er seine geplante Föderation im Unterschied zu der nicht viel später zustande gekommenen sog. „kleinen Entente“ (Petite Entente) in erster Linie auf eine wirtschaftliche und kulturelle Kooperation und nicht auf eine politische und militärische Zusammenarbeit aufgebaut hätte. Es wäre hauptsächlich ein Netz von intensiven wirtschaftlichen Verbindungen gewesen, in die sich nach der Konzeption von Eduard Beneš, die er in den Besprechungen von 30. September bis 7. November vorbrachte, vier Staaten, nämlich Österreich (Deutsch-Österreich), die Tschechoslowakei (Tschecho-Slowakei), Ungarn und Polen eingebettet hätten.
Die Frage, die sich jedoch im Zusammenhang mit dieser Bündnisordnung bzw. dem Bündnissystem) stellte, war erstens der Preis, der für ihre Verwirklichung bezahlt werden hätte müssen, und zweitens ihre Zukunftsperspektiven. Gerade die hohe Unsicherheit im Hinblick auf diese beiden entscheidenden Problemkreise war schließlich auch der Grund, warum dieser Plan nicht in die Realität d.h. in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. 17. Im Rahmen dieser kurzen Abhandlung ist es natürlich nicht möglich, sich im Einzelnen mit dem an mehreren Punkten auf den Föderalismus bezogenen Europagedanken und der darin enthaltenen, auch für die Gegenwart noch bedeutenden Botschaft des namhaften ungarischen Soziologen, Historikers und Politikers (Staatsmannes) Oszkár Jászi auseinanderzusetzen.
Ohne Anspruch auf eine tiefgreifende Analyse kann jedoch festgestellt werden, daß in dem Maße, in welchem das eingangs zitierte Motto Jean Jacques Rousseaus und die darin im Keime enthaltene Europaidee mit ihren „inkorporierenden“ Vorstellungen verwirklicht, besser gesagt verwirklicht worden wäre, dem im Jahre 1921 publizierten Buch Europa senza pace (auf Deutsch: Kein Frieden in Europa), das bald – bereits im Jahre 1922 auch in ungarischer Sprache vorliegen sollte (auf Ungarisch: Nincs béke Európában), von Francesco Saverio Nitti (1868-1953), jenem herausragenden liberalen Staatsmann Italiens, der den Friedensvertrag (Trattato di Pace) im Grand Palais von Trianon am 4. Juni 1920 mit Ungarn von italienischer Seite unterzeichnet hat3 , nicht die Eigenschaft einer bis in unsere Tage hinein wirksamen unheilvollen Prophezeiung zukommen würde.
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NOTAS
1 Bekanntermassen gibt es für den Mitteleuropa-Begriff keine allgemein anerkannte geographische Definition. Der Mitteleuropa-Begriff setzt sich aus Elementen der Geschichte, Kultur und Gefühl zusammen. Dieser Begriff ist politisch und wirtschaftlich eher als ein Gebilde der sog. variablen Geometrie zu betrachten.
2 Hier verweisen wir darauf, daß ein Jahr später, im Jahre 1868 der Ausgleich (auf Kroatisch: Nagodba) zwischen Ungarn und Kroatien-Slawonien abgeschlossen wurde.
3 Der Jurist und der namhafte Wirtschaftswissenschaftler Francesco Saverio Nitti, der auch Professor an der Universität von Neapel war, war – als Nachfolger von Vittorio Emanuele Orlando – vom 23. Juni 1919 bis 16. Juni 1920 Premier und Außenminister Italiens. Sein Nachfolger wurde Giovanni Giolitti. Sein Buch La tragedia dell’Europa wurde im Jahre 1923 veröffentlicht.
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