Revista europea de historia de las ideas políticas y de las instituciones públicas
ISSN versión electrónica: 2174-0135
ISSN versión impresa: 2386-6926
Depósito Legal: MA 2135-2014
Presidente del C.R.: Antonio Ortega Carrillo de Albornoz
Director: Manuel J. Peláez
Editor: Juan Carlos Martínez Coll
GESELLSCHAFT UND WIRTSCHAFT DE R BUNDESREPUBLIK ZU BEGINN DER 1980 ER JAHRE: EIN KOMMENTAR ZU DIETER STOLZES „DEUTSCHLAND – EIN JAMMERTAL?“
Thomas GERGEN*
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Thomas Gergen (2017): „Gesellschaft und Wirtschaft der Bundesrepublik zu Beginn der 1980 er Jahre: ein Kommentar zu Dieter Stolzes „Deutschland – Ein Jammertal“?“, en Revista europea de historia de las ideas políticas y de las instituciones públicas, nº 10 (noviembre de 2016-marzo de 2017).
Übersicht: Der vorliegende Beitrag bietet eine Draufsicht auf die gesellschaftspolitische Lage der Bundesrepublik Deutschland zu Ende der 1970er und beginnenden 1980er Jahre. Grundgelegt wird dazu ein Text des 1990 verstorbenen Journalisten Dieter Stolze, der mit seinem Essay ein hellwaches Zeugnis der späteren Nachkriegsgeschichte bietet. Schließlich werden auch rhetorische und stilistische Mittel zur Kritik an einem Text beleuchtet, der damit auch in das nationalökonomische Oeuvre Gustav Friedrich von Schmollers (1838-1917) passt, der sich als Kameralist zeitlebens den Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft widmete.
Schlüsselwörter: Dieter Stolze; Deutschland; Atomwirtschaft; sozialer Friede; Bundeswehr; Umweltschutz.
Résumé: L'article a pour but de donner une coupe transversale par rapport à la société de la République Fédérale d'Allemagne à la fin des années 1970 et au début des années 1980, une phase de transition entre les chanceliers Helmut Schmidt et Helmut Kohl. Issu du commentaire de Dieter Stolze « L'allemagne – une vallée de larmes ? », notre petite étude offre un témoignage de l'histoire allemande plutôt récente afin de rendre hommage et à Dieter Stolze, mais avant tout à Gustav Friedrich von Schmoller (1838-1917).
Mots clé: Dieter Stolze, Allemagne, Économie nucléaire, Paix sociale, Armée, Protection de l'environnement.
1. Hommage und Themenwahl
Beim Nachdenken über einen Beitrag zu Ehren von Gustav Friedrich von Schmoller (1838-1917)1 gingen mir mehrere Themen durch den Kopf. Es sollte etwas aus dem 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert sein, wozu mir neben der Kodifikationsgeschichte2 gewiss auch die Urheberrechtsentwicklung in den Sinn kamen. Gerade das noch im 19. Jahrhundert lebendige Privilegienwesen war in den Staaten des Deutschen Bundes ein beliebtes und praxisnahes Steuerungsmittel der Gewerbepolitik und damit ein Eingriff in die Volkswirtschaft durch den Souverän gewesen, was sich vor allem bei den Nachdruck- und Erfinderprivilegien zeigt, die als Schutzbriefe der Landesherren ausgestellt worden waren. Insofern wäre ein Thema zur Privilegienvergabepraxis Badens oder Württembergs sicher in Frage gekommen3, war von Schmoller in Württemberg geboren (Heilbronn) und Studierender der Kameralwissenschaften in Tübingen. Sein 1870 erschienenes Opus „Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert“ führt zweifelsohne in die Richtung der staatlichen Regulierungspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bei der Beschäftigung mit diesen Thema fiel mir aber schließlich ein geschliffener Text von Dieter Stolze4 in die Hände, den dieser in "Die Zeit" am 10. April 1981 veröffentlichte und der sich gerade der jüngeren Zeit- und Verfassungs- sowie der Wirtschaftsgeschichte widmet. War von Schmoller bekanntermaßen als „Kathedersozialist“ gekennzeichnet, kann man dies von Stolze wohl nicht behaupten. Bei beiden Autoren findet sich aber der Ganzheitsblick der Kameralistik, d.h. auf Verfassung, Verwaltung und Ökonomie und mehr noch auf das Einbringen der Staatsbürger für die staatlichen und gesellschaftlichen Aufgaben.
2. Autor und Verankerung im Gesamt-Oeuvre
Dieter Stolze (1929-1990) war Verleger und Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“ (dort seit 1963 tätig), aus der der ausgewählte Text von 1981 stammt. Bedeutende Abhandlungen hat er verfasst, so schon 1962 „Die dritte Weltmacht. Industrie und Wirtschaft bauen ein neues Europa“, 1963 „Inflation? Furcht und Wirklichkeit“ sowie im selben Jahr „Bleiben wir reich? Die neuen Aufgaben der Wirtschaftspolitik nach dem Ende des Wunders“. Bemerkenswert ist das Buch „Die Zukunft wartet nicht. Aufbruch in die neunziger Jahre“ von 1984 sowie ebenfalls im selben Jahr „Das Wunder lässt sich wiederholen. Argumente zu aktuellen Fragen der Wirtschaftspolitik“. In seinem hier zu besprechenden Kommentar "Deutschland - ein Jammertal" skizziert Stolze die Lage folgendermaßen:
Den Aussteigern erscheint Deutschland 1981 als Jammertal - als ein Land, dessen Flüsse und Seen chemisch vergiftet sind wie die Nahrungsmittel, wo sich Grund und Boden im Besitz von Spekulanten und anonymen Konzernen befindet, das bedenkenlos Bodenschätze ausbeutet, Gastarbeiter und andere Randgruppen unterdrückt, ein Land, das Rüstung als Selbstzweck betreibt. "Frust" ist zum Kennwort einer Generation geworden. Viele klagen über mangelnde Chancen im Beruf, bringen aber die Kraft zur individuellen Leistung gar nicht mehr auf, sondern versuchen, in eine anonyme Gruppe abzutauchen. Und als Höhepunkt des Selbstmitleids die Klage, die älteren seien „noch nicht einmal fähig, den Sinn des Lebens zu erklären“.
3. „Deutschland – Ein Jammertal?“
Stolzes appellierender Text zeigt die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Missstände der Endsiebziger und beginnenden 1980er Jahre merklich auf, und zwar so, wie sie gerne von den Aussteigern gesehen werden, seiner Ansicht ein deutsches Phänomen:
Es ist eben doch ein sehr deutsches Phänomen. Nirgendwo sonst in der Welt zeigt der Widerstand gegen die Nutzung der Nuklearenergie so unverkennbare Symptome von Hysterie wie in der Bundesrepublik. Da ziehen Zehntausende über das Land, betend die einen, Steine werfend die anderen, als wäre es ein Kreuzzug gegen den Leibhaftigen. Das steigert sich dann bis zu dem widerwärtigen Bild, dass Demonstranten, die uns angeblich vor einer inhumanen Plutonium-Wirtschaft schützen wollen, sich vor Freude auf die Schenkel klopfen, wenn sich vor ihnen ein Polizist mit brennender Uniform am Boden wälzt.
Der Autor erklärt darauf seine Unzufriedenheit mit dieser Sicht und leitet zu Gegendarstellung und Lösungsvorschlägen über:
Es gibt keine Technik ohne Risiken - für diese Binsenweisheit muss man nicht erst Erhard Eppler bemühen. Wie der Göttinger Soziologe H.P. Bahrdt5 gesagt hat: „Natürlich kann die Welt morgen untergehen. Aber diese unwiderlegbare Feststellung trägt nichts zur Beseitigung von Gefahren für unsere Zivilisation bei.“
Wer Gefahren widerstehen will, muss seinen Verstand gebrauchen und darf sich nicht dumpfen Ängsten ausliefern. Wer Umweltschutz für wichtig hält, muss für forciertes ökonomisches Wachstum plädieren: Nur mit viel Geld lässt sich die Welt sauber halten. Wer den Frieden bewahren will, muss für eine kampfstarke Bundeswehr und für die atomare Nachrüstung der NATO eintreten: Nur ein starker Westen kann Moskau von militärischen Abenteuern abhalten. Wer Wohlstand und sozialen Frieden befördern möchte, muss die Heranbildung von Eliten in Wissenschaft und Technik wollen: Nur wenn wir unser Land als hochtechnisierte Industrienation erhalten, ist unsere ökonomische Zukunft gesichert.
Ausgehend von zwei konkreten Fragen ruft Stolze zur Umkehr auf. Den schweizerischen Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) zitiert er schlussendlich, um seine These vom absolut nötigen Mut zum Fortschritt zu untermauern:
Doch haben wir noch die Kraft, solch einfache Wahrheiten in der politischen Wirklichkeit durchzusetzen? Drängt sich nicht vielmehr der Eindruck auf, Kabinett und Koalition betrieben Politik nach dem Kalauer-Motto: „Es gibt viel zu tun, warten wir es ab“? Noch ist es nicht zu spät, Versäumnisse der vergangenen Jahre wettzumachen. Mut zum Fortschritt ist alles, was wir brauchen. Natürlich birgt die Zukunft bekannte Probleme und unbekannte Gefahren. Doch Anlass zur Resignation gäbe es nur, wenn wir dem weithin propagierten Irrglauben erlägen, wir könnten uns dem Fortgang der Geschichte verweigern. Wie Jacob Burckhardt geschrieben hat: „Das Verharren würde zur Erstarrung und zum Tode; nur in der Bewegung ist Leben.“
Der Kommentator versteht sich als Oppositioneller seiner Zeit, da er die Verhaltensweisen der Menschen und die Regierung (seit 1974 sozialliberale Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt) kritisiert. Diese befindet sich wahrhaftig in einer Krisis, denn bei den Landtags- und Kommunalwahlen laufen der SPD die Wähler davon, die Union gewinnt an Stärke, die Grünen kandidieren und kämpfen gegen den Atomstaat wie etliche Bürgerinitiativen und freie Wählergemeinschaften auch. Stolze bereitet offensichtlich einer unionsgeführten Bundesregierung den Weg, oder anders gesagt: Er wünscht sie sich zumindest. Daher verfolgt er die Absicht, den Leser zum Umdenken aufzufordern, nicht in den Missständen der Zeit zu erstarren, den Aussteigern eine klare Absage zu erteilen, der Wirtschaft mehr zu vertrauen (auch der Atomwirtschaft!), fortschrittlich und begeistert zu handeln und auf positive Art die Geschichte fortzuschreiben. übrigens waren dies alles Wahlkampfparolen der CDU/CSU von 1982, die das gleiche wie der Zeit-Journalist unter dem groben Motto "Es muss wieder aufwärts gehen" und ähnlichem reklamierten. Der Adressatenkreis umfasst grosso modo alle Leser, jedoch im besonderen diejenigen, welche die Wirtschaft durch ihre Tätigkeiten ankurbeln, sprich: das kleine und mittlere Unternehmertum. Es sind gleichfalls solche angesprochen, die das ständige Lamentieren über das "Jammertal Deutschland" leid sind.
An dieser Stelle sei folgendes angemerkt: Von 1982 bis 1983 war Stolze Regierungssprecher und Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Ab 1984 fungierte er als Medienberater der Niedersächsischen Landesregierung unter Ernst Albrecht (CDU). Darüber hinaus war er Mitarbeiter des Beirats für neue Medienfragen und ab 1983 wirtschaftspolitischer Berater von Helmut Kohl (CDU).
Stolzes Kommentar verfügt über einen logischen Aufbau, denn er bringt zu seinen Behauptungen stets Beweise und genügend Beispiele. Er reiht zunächst Missstände aus Sicht der Aussteiger aneinander; so verweist er auf Gewässerverschmutzung, Lebensmittelvergiftung, Bodenspekulation und Marktkonzentration sowie auf Rohstoffmissbrauch, Ausländerproblematik und Minderheitenunterdrückung sowie auf eine depressive Mentalität der jungen Generation, gar nicht zu reden von Aufrüstung und Kernkraft. Stolze steigert sich dergestalt, dass er eine schon perverse Situation beschreibt, bei der sich Demonstranten über die Qualen eines Ordnungshüters mit brennender Uniform freuen, weil sie glauben, sie siegten auf diese Weise über die Nuklearenergie.
Diesen Vorgang zum Beweis nehmend, um der beschriebenen Aussteigermentalität eine klare Absage zu erteilen, leitet der Autor zu seinen Lösungen über. Vorab wird noch mitgeteilt, dass es ohne Risiken keine Technik gebe und dass der Ausspruch vom eventuell morgigen Weltuntergang nicht zur Gefahrenbeseitigung für die Zivilisation diene. Um die Umwelt zu schützen, brauche die Politik Geld, das durch verstärktes wirtschaftliches Wachstum erwirtschaftet werde, rät Stolze.
Überdies bedürfe es einer kampfstarken Bundeswehr, einer atomaren Nachrüstung der NATO zwecks Friedenssicherung und einer Eliteausbildung zum Fortschritt in Wissenschaft resp. Technik. Allein die „hochtechnisierte Industrienation“ sei in der Lage, die ökonomische Zukunft zu sichern. Schließlich ruft der Autor zu „Mut zum Fortschritt“ auf und bemüht ein Zitat Burckhardts: „Nur in der Bewegung ist Leben“.
4. Stilanalyse
Stolzes Kommentar ist in erweiterten Parataxen und zahlreichen Hypotaxen geschrieben. Kurz, fast lakonisch formuliert er seine Behauptungen, wie zum Beispiel „Den Aussteigern erscheint Deutschland 1981 als Jammertal“ oder „Es gibt keine Technik ohne Risiken“, während er langweilig wirkende Hypotaxen gebraucht, um langatmige und lästige Missstände zu beschreiben. Der Autor nützt die fakultativen Satzgliedstellen meist vollständig aus und bedient sich morphologischer Mittel, da er mit dem Personalpronomen „wir“ jeden zum Fortschritt aufrufen will: „Mut … ist alles, was wir brauchen“.
Stolze bildet weitgehend Aussagesätze. Die Überschrift mit der Frage „Deutschland – ein Jammertal?“ wirkt schon provozierend, sie stimmt den Leser nachdenklich und fordert wie die beiden anderen rhetorischen Fragen, die beide mit „doch“ oder „selbstverständlich“ aus der Leserwarte zu beantworten wären, zur Besserung, Aufklärung und zu kritischem und vor allen Dingen fortschrittlichem Handeln auf. Zur Betonung seiner Lösungsvorschläge, die durch das Voranstellen von „nur“ einmalig und ohne jegliche Alternative sind, benützt Stolze die Inversion. So schreibt er etwa: „Nur ein starker Westen … Nur wenn wir unser Land …“ Anzumerken bleibt, dass er diese Patentrezepte sogar mittels vorangehender Doppelpunkte hervorhebt. Um die Vorstellungen von dem so genannten „Aussteiger“ paradox und verworren darzustellen, setzt der Autor Antithesen ein. Diese lauten: „Viele klagen über mangelnde Chancen..., bringen aber die Kraft zur individuellen Leistung gar nicht mehr auf“. Daraufhin schreibt Stolze in Partizipialkonstruktionen, die Wiederholung und vor allem beharrliche Intensität vermitteln sollen: „betend die einen, Steine werfend die anderen.“ Mit letzterem Bild zeigt er die geteilten Lager der Kernkraftgegner und deren „sinnloses Handeln“ auf.
Parallelismen in ähnlicher Verwendung treten folgendermaßen auf: „Wer..., muss..., wer ...“ Auf diese Weise nimmt Stolze den Leser in die Pflicht, denn er formuliert: „Wer Umweltschutz für wichtig hält, muss für… Wachstum plädieren.“ Die Schuldigen fasst der Autor in einer Alliteration zusammen: „Kabinett und Koalition“ mit Politik nach dem „Kalauer-Motto“. Man kann sogar so weit gehen, dass man „Kabinett und Koalition“ als Personifikation ansieht, denn die Regierungsmitglieder sind laut Stolze mitverantwortlich an den Missständen, ja, sie verkörpern sie geradezu. Folgende Vergleiche begegnen dem Leser: „...Flüsse und Seen sind chemisch vergiftet wie die Nahrungsmittel“ und „Da ziehen Zehntausende über das Land..., als wäre es ein Kreuzzug...“ Darüber hinaus arbeitet Stolze ebenfalls mit Synonymen, denn „Flüsse und Seen“ stehen für „Gewässerverschmutzung“. „Grund und Boden“ für „Landbesitz“ und “Kabinett und Koalition“ für die sozialliberale Bundesregierung mit ihren entsprechenden Mehrheiten im Deutschen Bundestag.
Und mehr noch: Stolze setzt die rhetorische Figur der Klimax ein: Zum einen spricht er vom „Höhepunkt des Selbstmitleids“ als „Steigerung des Frust“, zum anderen schreibt er, dass die Kundgebungen gegen die Atomkraft sich bis zu den widerwärtigen Bildern steigere...“ Das Vorgehen der Demonstranten erscheint als Paradoxon, das „militärische Abenteuer“ Moskaus lässt Ironie erkennen. Mit einer „kampfstarken Bundeswehr“, die der Kommentator für erforderlich hält, spielt Stolze auf die Wehrdienstverweigerung „per Postkarte“ an, die eine so von Stolze gewünschte Bundeswehr nie möglich gemacht hätte. Der Autor verwendet den Euphemismus, denn er beschönigt die Beunruhigungen der Menschen, ja, er wertet sie gewissermaßen sogar ab. Mit „Moskau“ als Gesamtheit der (einstigen) Sowjetunion verstanden, tritt eine Metonymie auf, schließlich eine Paronomasie, denn der Werbespruch „Es gibt viel zu tun, packen wir's an“ wird verwandelt in den gemütlichen Satz „...warten wir es ab“.
Stolzes Kommentar ist in Normalsprache verfasst, die an den Leser wegen weniger Fremdwörter geringe Anforderungen stellt. Die Stilfärbung ist null-expressiv, eindringlich dort, wo er seine Lösungen schildert und appellativ, sobald er zum Fortschritt aufruft.
Wortgruppen wie Jammertal, Frust, Hysterie usw. stehen im schroffen Gegensatz zu Fortschritt, Bewegung und Mut. Mit letztgenannter Gruppe tritt Stolze den Aussteigern entgegen und verweist auf Morgen. Der feststehende Ausdruck „sich auf die Schenkel klopfen“ als Zeichen der offen gezeigten Freude, ist dem phraseologischen Aspekt unterzuordnen.
5. Volkswirtschaftliches Wachstum – aber nicht um jeden Preis
„Mut zum Fortschritt ist alles, was wir brauchen“: Mit diesem Leitsatz will Stolze alle anstehenden Schwierigkeiten lösen. Mit Investitionen des Staates in die Wirtschaft können Arbeitsplätze geschaffen werden insbesondere Stellen für die Jugend, damit diese den Frust verliert. An dieser Stelle können wir eine eher interventionistische Haltung Stolzes festmachen, die auch von Schmoller im Hinblick auf den preußischen Staat vertrat.
Herrscht Vollbeschäftigung, so gibt es gleichfalls weniger Neid unter den Arbeitenden als bei hoher Arbeitslosenquote, in Sonderheit kein Neid mehr auf Gastarbeiter und auf deren Berufe. Und aktuell können wir hinzufügen, dass dies auch für das Verhältnis zu den Flüchtlingen gilt, die die Bundesrepublik seit 2015 verstärkt vor allem aus Syrien und ähnlichen Ländern aufnimmt. Der Staat kann mithin seine große Integrationsaufgabe lösen – insofern liegt hierbei eine merk(e)liche Parallele zu von Schmoller, der vertrat, dass der preußisch-paternalistische Staat es schaffen müsse und könne, die neue gesellschaftliche Schicht (hier die neu entstandene Arbeiterklasse) in den Staat zu integrieren.
Steigt das Wirtschaftswachstum, so wird obendrein mehr Geld vorhanden sein für die ökologischen Aufgaben des Staates. Unter „Mut zum Fortschritt“ fasst Stolze ergo Investition, Vertrauen in die Wirtschaft. Mit Hilfe erhöhter finanzieller Mittel wäre ein Umweltminister offensichtlich in der Lage, die Flüsse zu entgiften, Altlasten abzubauen und bessere und häufigere Lebensmittelkontrollen durchführen zu lassen. Schließlich ruft Stolze zum Vertrauen in die Rüstung auf, die wegen ihrer Abschreckung dem Frieden in der Welt dienen könne.
„Mut zum Fortschritt“ soll gleichermaßen für Wissenschaft und Technik gelten, damit durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse Verbesserungen geschaffen und Fortschritte erzielt werden können. Aber ist dies in der Wirtschafts- und Rechtspraxis in dieser Form umsetzbar? Auch Fortschritt ist nicht nur das Non-plus-Ultra. Stolzes Behauptung „Nur mit viel Geld lässt sich die Welt sauber halten“ hinkt, denn man kann doch nicht einerseits zur Erlangung wirtschaftlichen Wachstums Umweltverschmutzung zulassen, um dann mit dem Erlös die Umwelt wieder zu regenerieren und zu schützen!
Beim Waldsterben beispielsweise kann noch so viel Geld zur Pflege erkrankter und zur Erhaltung gesunder oder zur Pflanzung neuer Bäume und Sträucher vorhanden sein: Ein Baum braucht zum Wachsen Zeit, mindestens 15-20 Jahre und mehr, bis er vollständig zur Sauerstoffproduktion fähig sein wird. Ebenso wenig ist wahrscheinlich, dass die Unternehmer, die mehr Gewinne erzielt haben, bereit sind, das Geld in den Umweltschutz einzubringen. Jede Regierung wird sich davor hüten, bei den Unternehmen Abgaben für die Umwelt zu erheben, denn diese Forderung ist stets unpopulär und könnte infolge von Abwanderungen und Betriebsschließungen zu Arbeitsplatzverlusten führen, sobald die Unternehmer auf ausländische Produktionsstätten und -standorte ausweichen. Letztlich sind es natürlich die Verpflichtungen, die Verschuldung einzudämmen, die verhindern, solche Maßnahmen aus dem Staatshaushalt zu finanzieren.
Die durch Fortschritt geschaffene Wohlfahrt wirkt sich nicht immer positiv auf eine Gesellschaft aus. Der Fortschritt der Technik, mit Genen zu experimentieren, um mehr Nahrungsmittel auf der Welt zu erzeugen (etwa Weizen), ist aufgrund der Überproduktionen wirklich kein Segen für die Menschheit. Dass auch im Wohlstand Unzufriedenheit herrscht, zeigen Drogenprobleme, Untätigkeit und mangelnder Schöpfergeist bei vielen jungen und auch älteren Zeitgenossen.
Viele atomare Unfälle haben schlussendlich gezeigt, dass der „Mut zum Fortschritt“, grenzenlos der Atomwirtschaft Glauben zu schenken, nicht immer segensreich ist; so sind das Problem der Beseitigung atomarer Brennstäbe, aber auch die Luftbelastung und Strahlung als für uns alle sehr ernst einzustufen. 2016 haben die Medien an den 30. Jahrestag der größten Katastrophe in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomkraft erinnert, denn am 26. April 1986 war der Reaktor von Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunion explodiert und weite Teile Europas von radioaktivem Material heimgesucht. Bis heute leiden dort Mensch und Natur an den Folgen des Super-GAU. Beim Abwägen der Gründe Pro und Contra ist daher stets wichtig, dass man sich nicht unentwegt und kritiklos jedwedem Fortschritt ergeben muss, es vor allen Dingen niemals gedankenlos darf.
Recibido el 25 de julio de 2016. Aceptado el 22 marzo de 2017
* Der Autor hat an der European University for Economics and Management (eufom) in Luxemburg die Professur inne für Internationales und vergleichendes Zivil- und Wirtschaftsrecht mit Immaterialgüterrecht/Recht des Geistigen Eigentums, verbunden mit der Direktion des dortigen Forschungsschwerpunktes für Immaterielle Wirtschaftsgüter und Geistiges Eigentum. Er ist zudem Sachverständiger für ausländisches Recht bei Gerichten, Notariaten und Kammern. EPost-Adresse: thomas.gergen@eufom.lu.
NOTAS
1 http://www.deutsche-biographie.de/sfz74741.html [06.06.2016].
2 Gergen, Gerichtsbarkeit in Napoleonischer Zeit. Neuordnung des Gerichtswesens, Trennung von Justiz und Verwaltung, Cinq Codes, Rheinische Institutionen, Appellationsgericht Trier, in: Recht.Gesetz.Freiheit. 200 Jahre Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken, Ausstellungskatalog, Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz Band 121, Mainz 2015, S. 26-35.
3 Siehe zum Beispiel Gergen: Lemmata Nachdruck, Privileg und Urheberrecht in: Reclams Sachlexikon des Buches: Von der Handschrift zum E-Book, 3. Aufl. Stuttgart 2015, hg. von Ursula Rautenberg; Gergen, Raubdruck und Urheberrecht, in: Homenaje a Michel Villey (1914-1987), Revista Europea de Historia de las Ideas Políticas y de las Instituciones Públicas 7 (2014), S. 115-124, http://www.eumed.net/rev/rehipip/07/raubdruck-urheberrecht.html; Gergen, Die Nachdruckprivilegienpraxis in Württemberg im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für das Urheberrecht im Deutschen Bund (Schriften zur Rechtsgeschichte Bd. 137, Duncker&Humblot, Berlin 2007) und ders., Badisches Urheberrecht im 19. Jahrhundert: Die Fälle Pestalozzi, Allioli, Schleiermacher, Grillparzer sowie Goethe und Schiller, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens (AGB) 66 (2011), S. 109-143.
4 Theo Sommer über Stolzes Unfalltod: http://www.zeit.de/1990/45/streitbar-und-lebensfroh [06.06.2016].
5 Hans Paul Bahrdt: Autor des zuletzt in 6. Auflage (2003) erschienenen Buches „Schlüsselbegriffe der Soziologie: eine Einführung mit Lehrbeispielen“.
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